Die zehn extra Minuten nach dem Snooze-Button hättest du dir sparen können. Wärst du direkt aufgestanden, müsstest du dich jetzt nicht so abhetzen. Hättest den früheren Zug erwischen können. Früher auf der Arbeit sein können, um X und Y zu erledigen. Dann hättest du sogar Zeit gehabt, um noch Thema Z dazwischen zu schieben, jetzt lässt du die Person hängen.
Dieser Gedankengang spielt sich in dieser oder ähnlicher Form jeden einzelnen Morgen innerhalb der ersten 30 Minuten nach dem (tatsächlichen) Aufwachen in meinem Kopf ab. Gerne auch nachdem ich auf Snooze gedrückt habe und diese ach so fatalen zehn Minuten extra eigentlich zum Ausruhen nutzen wollte. Und so rattert es nahezu 24 Stunden an sieben Tagen die Woche in meinem Kopf.
Macht mich das zum ultimativen Opfer und/oder Idioten ohne Selbstkontrolle? Nein. Diese paar Zeilen schreibe ich so ehrlich und öffentlich nieder, weil ich weiß, dass jede dieses Gefühl kennt. Manche als ständiger Begleiter wie in meinem Fall oder zu bestimmten Phasen im Leben. Es ist normal – ja, in erster Linie menschlich – dass wir ständig denken, analysieren, Muster erkennen und Lösungen finden wollen. Das ist unser evolutionärer Vorteil, der uns in der modernen Gesellschaft mittlerweile gerne ins eigene Bein schießt.
Denn einerseits erschöpft uns dieses ständige Verketten von „Wenn, dann“-Gedanken, andererseits raubt es uns kognitiver und zeitlicher Ressourcen. Decision Fatigue, auf Deutsch auch Entscheidungsermüdung, beschreibt den Zustand, der meist durch dieses ständige Überlegen herbeigeführt wird. Jeden Tag triffst du hunderte von winzig kleinen, unbewussten und großen, bewussten Entscheidungen. Das beginnt mit der Entscheidung „Snooze – ja oder nein?“, geht über die Auswahl deiner Kleidung für den Tag bis hin zu schwerwiegenden Entscheidungen in deinem Job: Dein Kollege macht X – wie verhältst du dich? Gibt es noch Optionen oder muss Person Y entlassen werden? Jede Entscheidung kostet uns mindestens Zeit und Energie – auch in Zukunft, denn Entscheidungen haben nun mal Konsequenzen. Und je mehr Entscheidungen wir treffen, desto schlechter wird unser Urteilsvermögen und damit die Qualität der getroffenen Entscheidungen.
Ein bekanntes Beispiel für die schwerwiegenden Folgen von Decision Fatigue: Eine Studie von Danziger, Levav und Avnaim-Pesso hat gezeigt, dass der Anteil von Freisprechungen mit jeder von Richtern getroffenen Entscheidungen um 65% sinken. Mit jeder Entscheidung. Nach einer Pause steigen die Werte im Schnitt übrigens wieder auf die Ausgangslage zurück. Einfach gesagt: Richter treffen mit jeder getroffenen Entscheidung „schlechtere“ Urteile. Menschen, die die Verantwortung dafür tragen, wie das weitere Schicksal anderer aussehen wird. Erschwerend kommt hinzu, dass Decision Fatigue auch das Zurückfallen auf (vermeintliche) Erfahrungswerte begünstigt. Das heißt, Vorurteile jeglicher Form – von Rassismus über Sexismus – haben zunehmend stärkeren Einfluss.
Aber was hat das jetzt mit Snooze drücken zu tun? Es ist natürlich unangemessen, kleine, alltägliche Entscheidungen mit großen, schicksalsbestimmenden Urteilen zu vergleichen. Aber erstere haben einen enormen Einfluss auf letztere. Und jede Entscheidung hat Konsequenzen – für andere, für uns selbst.
„Sehr gut, jetzt habe ich noch mehr Druck und Sorge, die falsche Entscheidung zu treffen!“ – das soll nicht das Fazit dieses Beitrags sein. Die Aussage, die ich hier mitgeben möchte, ist eigentlich das vermeintliche Gegenteil: Geduld und Verständnis für uns selbst.
Wir sollten Geduld mit unserem Gedankensturm haben. Ihnen als solchen anerkennen und uns bewusst machen, dass das unser Hirn ist, das helfen will – evolutionär gesehen aufpassen will, dass wir uns nicht aus Dummheit selbst umbringen. Geduld mit Entscheidungen, die doch nicht die besten waren. Geduld für den Prozess unseres persönlichen Wachstums.
Das Verständnis geht eine Ebene tiefer. Warum denke ich so? Vieles geschieht unbewusst, aber den halbwegs bewussten Gedankenstrom und -sturm wahrzunehmen, anzuerkennen und zu analysieren, ist der erste Schritt für einen gesünderen Umgang mit uns selbst. Es mag augenscheinlich paradox erscheinen, zu viel Denken mit noch mehr Denken zu bekämpfen.
Als Teil einer Übung zur persönlichen Weiterentwicklung sollte man automatisierte Gedankenmuster und Glaubenssätze als Teil einer Übung niederschreiben. Ich habe sie offen und ehrlich so aufgeschrieben, wie sie in meinen Kopf waren. Mensch, der ich bin, waren sie größtenteils negativ oder ungesund. Eine Kollegin, mit der ich diese Übung gemeinsam machte, sah das kritisch und meinte, dass es vollkommen legitim sei, solche Gedanken zwar zu hören, aber ihnen nicht „Macht“ zu verleihen, indem man sie aufschreibt. Lieber solle man die bewusste, positive Formulierung niederschreiben. Ein Beispiel wäre lieber „Ich bin genug“ aufzuschreiben statt „Ich muss mehr erreichen“.
Ihren Standpunkt verstehe ich. Sie hat Recht damit, dass es nicht Zweck der Sache ist, internalisierte, schädigende Glaubenssätze weiter zu bestärken. Mein Ansatz, der mir bisher immer am besten geholfen hat, ist es, dort hinzusehen, wo es wehtut und hässlich ist. Um zu verstehen, warum ich so denke, muss ich erst wissen, was ich denke. Das Unbewusste ins Bewusste rufen. Um es vereinfacht zu sagen: Statt mir zu sagen, dass es kein Monster unter meinem Bett gibt, sehe ich es hilfreicher an, kurz das Licht anzumachen, einen Blick unters Bett zu werfen und einen Haken an die Sache zu setzen.
Das sind persönliche Ansätze. In aller Regel liegt der erste Schritt zur (Selbst-)Verantwortung und Verbesserung aber darin, eine Bestandsaufnahme zu machen und zu fragen: Wie kam es dazu? Für mich ist es sogar Teil meiner Identität. Dieser Blog setzt sich schließlich mit Fragen auseinander und soll Erklärungsansätze liefern, um Werkzeuge zur Verbesserung zu vermitteln.
Letztlich können wir unser Hirn nicht vom Denken abhalten. Ja, bloß nicht! Unser Hirn, unsere evolutionäre Entwicklung ist etwas Fantastisches. Aber wir sollten uns bewusst machen, dass wir unser Leben, Denken und Handeln aktiv bestimmen können und kein Treibholz im Strom sind. Es gibt Phasen, da können wir selbstbestimmter agieren als in anderen. Psychische Krankheiten wie Depressionen können all das enorm erschweren.
Aber wenn ich eins meinen Mitmenschen und mir selbst gleichermaßen mitgeben will: Mach dich nicht selbst zum passiven Opfer. Verschließe nicht die Augen, sondern schau hin und frage dich, wie du es ändern kannst. Und dann: machen. Immer und immer wieder.